Sie trainieren im gleichen Club, gehören dem Nationalkader an. Nun sind sie Gegnerinnen, kämpfen gegeneinander um das letzte Ticket für die Olympischen Spiele. Oriana Scheuss (36) und Andrea Brühlmann (24). Showdown zweier Topschützinnen.
von Ueli Daepp
Auf den ersten Blick machen sie auf «Friede, Freude, Eierkuchen». Doch der Eindruck täuscht. Wer hinter die Fassade der beiden Ostschweizer Topschützinnen sieht, weiss: Oriana Scheuss und Andrea Brühlmann schenken sich in diesen Tagen nichts. Gar nichts. Sie stehen unter totalem Druck.
Am Dienstag letzter Woche reisten die beiden nach Peking. Im gleichen Flugzeug. Reisten als Gegnerinnen, Sitz an Sitz, um den halben Erdball. Ein 16-Stunden-Flug, um danach am vorolympischen Wettkampf vom 10. bis 21. April in Peking gegeneinander anzutreten.
Erst war geplant, dass sie am Wettkampfort auch noch das Zimmer teilen. Doch das war den Kontrahentinnen dann doch zu viel. Sie konnten erwirken, dass sie wenigstens neben dem Wettkampfplatz voreinander Ruhe haben. Bekamen ausnahmsweise je ein Einzelzimmer.
Kampf der letzten Hoffnung
Oriana Scheuss, 36jährige Bankangestellte aus Gossau, steht im Herbst einer erfolgreichen Schützenkarriere. Um jeden Preis will sie nochmals an die Olympischen Spiele. «Es gibt nichts Grösseres für einen Sportler!» Doch möglicherweise steht ihr nun ausgerechnet ihre Clubkollegin, die 24jährige Newcomerin Andrea Brühlmann aus Winden TG, im Weg. Denn Brühlmann zielt ebenso genau wie Scheuss und träumt ebenfalls von einer Olympia-Teilnahme. Beide habens bisher verpasst, den vom Verband geforderten 13. Rang (oder besser) an einem Weltcup-Wettbewerb zu schaffen. Somit wird der Weltcup von Peking von dieser Woche der Wettkampf der letzten Hoffnung für die beiden: Im Kleinkaliber-Wettkampf geht es darum, welche von beiden am Ende besser klassiert ist. Denn nur die bessere erhält dann die Chance, noch an zwei weiteren Weltcup-Wettkämpfen teilzunehmen und dort das für Olympia geforderte Resultat (13. Rang oder besser) zu erzielen. «Der Druck, der auf den beiden lastet, ist enorm», wissen Insider. Für die beiden Waffen-Ladies, die zur Erfüllung ihres Olympia-Traumes enormen Aufwand betrieben haben, gehts jetzt um mehr als eine Wurst.
Nicht nur die Naturlocken . . .
Oriana Scheuss und Andrea Brühlmann sind zusammen mit Weltmeister Marcel Bürge (Freund von Andrea Brühlmann) die Aushängeschilder bei den Gossauer Sportschützen. Sie trainieren fast täglich im gleichen Schiesskeller. Allerdings tun sie dies meist zu unterschiedlichen Zeiten. «Aus beruflichen Gründen», wie die beiden betonen. Oriana ist Angestellte einer Bank, Andrea übt ihren Sport derzeit professionell aus.
Die beiden im Sternzeichen Wassermann geborenen Frauen mit derselben Passion für das Schiessen haben vieles gemeinsam: die braunen Naturlocken genauso wie den Farbengeschmack («wir tragen oft die gleichen Farben»). Auch in ihrer Lebenseinstellung seien sie ähnlich, bemerken sie im Gespräch. «Respekt, Anstand und Loyalität sind beiden wichtig.»
Eindrückliches Palmarès
Gemeinsam ist ihnen auch der Ehrgeiz und ihre Zielstrebigkeit, dank denen beide schon viel gewonnen haben: Oriana Scheuss hat mit Luftgewehr, Klein- und Grosskaliber sowie Armbrust schon viele Schweizer-Meister-Titel gewonnen. Sie war Olym- pia-Teilnehmerin 2000, wurde Vizeweltmeisterin 2006 im Grosskaliber-Teamwettkampf.
Ihre derzeitige Widersacherin Andrea Brühlmann ist Europameisterin mit dem Sportgewehr, Vizeweltmeisterin und mehrfache Schweizer Meisterin mit Sport- und Luftgewehr. Brühlmann gehört dem Olympia-Kader an und erhält dadurch vom Verband finanzielle Unterstützung.
Zum Showdown zwischen den beiden Kleinkaliber-Titaninnen kommt es am Donnerstag dieser Woche. «Die Situation ist, wie sie ist – ich konzentriere mich auf mich und nicht auf Andrea», sagt Oriana Scheuss. «Das einzige, was ich jetzt sehe, ist die Chance, mein Ziel zu erreichen.»
Andrea Brühlmann versucht Gelassenheit zu wahren und sagt sich: Wir sind ja auch sonst in den Wettkämpfen Konkurrentinnen. «Klar, wirds für beide nicht einfach werden am Tag des Wettkampfes», sagen beide. Doch man glaube kaum, dass sie danach nicht mehr miteinander reden würden. Wer ist die Favoritin? Andrea: «Dumme Frage – beide!»